Kompetenzorientierung in den Ingenieurwissenschaften
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Hochschullehre
Kompetenzorientierung in den Ingenieurwissenschaften

Bereits seit Jahren gilt die von der Hochschulpolitik geforderte kompetenzorientierte Lehre in den deutschen Hochschulen als Zielsetzung (im Folgenden sind unter dem Begriff Hochschule Stätten für wissenschaftliche Forschung und Lehre verstanden, worunter Universitäten, Technische Universitäten, theologische und kirchliche Hochschulen, Kunst- und Musikhochschulen und Fachhochschulen subsummiert sind [Minter 2018]). Mit der Kompetenzorientierung ist ein Perspektivwechsel der Lehrenden von „Was werde ich im Modul vermitteln?“ hin zu „Welche Kompetenzen werden die Studierenden im Modul erwerben?“ verbunden (HRK Modus 2023). Diese Perspektive wird für die Hochschullehre als zielführend angesehen, und es wird den Hochschulleitungen geraten, sicherzustellen, dass „die Hochschulangehörigen mit den Grundzügen kompetenzorientierten Lernens und Prüfens vertraut sind“ (HRK 2013, 17). So soll erreicht werden, dass Studierende passgenaue Kompetenzen zur Bewältigung ihrer späteren beruflichen Herausforderungen erhalten. Allerdings scheinen sich besonders die ingenieurwissenschaftlichen Fakultäten/Fachbereiche mit der Kompetenzorientierung noch schwer zu tun. Zunächst aber sollte ein Rückblick darauf geworfen werden, wie es eigentlich zur kompetenzorientierten Lehre kam.
Meilensteine des Wegs zur Kompetenzorientierung in der deutschen Hochschullehre
Mit der Unterzeichnung der Sorbonne- Erklärung 1998 durch die für Bildung zuständigen Minister:innen von Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien an der Universität Sorbonne und dem Beschluss der in 1999 folgenden Bologna-Erklärung weiterer 30 Staaten wurde die Grundlage zur Schaffung eines Europäischen Hochschulraums gelegt. Zu den Zielsetzungen gehören beispielsweise die Einführung gestufter Studiengänge, die Vereinfachung der Anerkennung von Studienleistungen und -abschlüssen oder die Förderung der Mobilität der Studierenden und Hochschulangehörigen. Dieser als Bologna-Prozess bezeichnete Weg führte mit Erweiterungen des Zielkatalogs – darunter „Lebenslanges Lernen“ oder die Förderung der weiteren Entwicklung der Qualitätssicherung in den Folgekonferenzen in Prag 2001 und Berlin 2003 (KMK/BMBF 2021, 3-4) – zu einer umfassenden Reform der deutschen Hochschullandschaft. Aus Diplom- Studiengängen wurden überwiegend Bachelor- und Master-Studiengänge, aus Fächern wurden Module, der Leistungsumfang wird seither in European Credit Transfer System Punkten (ECTS-Punkten) angegeben und vieles mehr. Insbesondere erfolgt aber seither eine Ausrichtung auf die zu erlangenden Kompetenzen beziehungsweise die Lernergebnisse (HRK Modus 2023; KMK/BMBF 2021, 5–17; zur Abgrenzung der Begriffe Kompetenzen, Lernergebnisse und Lernziele exemplarisch HRK Modus 2023b).
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Geänderte Anforderungen an die Hochschullehre
Im Zuge des Bologna-Prozesses wurden und werden geänderte Anforderungen an die Hochschullehre gestellt. Die Struktur bei den Studierenden hat sich geändert, es finden sich nun zunehmend auch „nicht-akademische“ Studierende (Biggs/Tang 2011, 13) an den Hochschulen. Als „nicht-akademisch“ werden Studierende ohne primär akademisches Interesse eingestuft. Diese studieren nur deshalb, weil sie diese Qualifikation für ihren Beruf brauchen. Zur erfolgreichen Bewältigung ihres Studiums benötigen sie eine Form der Vermittlung des Stoffs in den Lehrveranstaltungen, die auf ihre Aktivierung ausgerichtet ist (Biggs/Tang 2011, 5). Als zentrales Element wird hierzu das Anknüpfen an typische Situationen der späteren beruflichen Praxis angesehen, ohne dabei die inhaltliche Qualität der Lehre zu reduzieren.
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Merkmale und aktuelle Herausforderungen der ingenieurwissenschaftlichen Hochschullehre
Die Ingenieurwissenschaften sind geprägt durch eine axiomatische Basis und eine analytische Sichtweise. Ingenieurwissenschaftliche Theorien werden auf Basis naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und mathematischer Beschreibungsmethoden gebildet. Die Vermittlung des Wissens in der Lehre wird durch Experimente im Labor flankiert und vertieft. Wesentlich sind Systemdenken und Kybernetik, die auch die zunehmend komplexeren technischen Systeme vermittelbar machen (vergleiche Jenewein 2014, 14–15). Zudem wird die Nachhaltigkeit und damit der Blick auf die Verwendung der Technologien mit den Folgen für Natur, Mensch und Gesellschaft und der gesamte Lebenszyklus für Produkte und Systeme zum wesentlichen Fokus in den Ingenieurwissenschaften (siehe exemplarisch DFG Magazin 2023).
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Gängige Unterstützungsangebote für die kompetenzorientierte Lehre
An vielen deutschen Hochschulen werden interne Schulungen zum Constructive Alignment angeboten (siehe exemplarische Beispiele nach dem Quellenverzeichnis). Der Ansatz des Constructive Alignment (Biggs 1996) findet seinen Niederschlag im Lehrkonzept eines Moduls, der Wahl einer geeigneten Prüfungsform und einer passenden kompetenzorientierten Formulierung in der Modulbeschreibung. Auf diese Weise soll die Lücke geschlossen werden, die sich oft zwischen den Ansprüchen der Lehrenden (hinsichtlich dessen, was die Studierenden lernen sollten) und den Ansprüchen der Studierenden (hinsichtlich Studienabschluss oder Bestehen der Prüfungsleistungen), ergibt (Braband 2009). In den Schulungen wird insofern vermittelt, wie das Zusammenwirken der drei Bestandteile Kompetenzen als Learning Outcomes formulieren <–> Prüfungen konzipieren <–> Lehr-Lernprozess gestalten konkret realisiert werden kann (vergleiche Wildt/Wildt 2011, 9 mit Bezug auf Biggs/Tang 2007). Dabei werden ausgehend von den Lernzielen des Studiengangs die Lernziele auf Modulebene abgeleitet (vergleiche Abulawi/ Karl 2016).
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Eine zielführende Vorgehensweise für die Ingenieurwissenschaften
Nachfolgend wird eine von der Autorin entwickelte Vorgehensweise mit fünf Bestandteilen beschrieben, die den besonderen Anforderungen der Ingenieurwissenschaften Rechnung trägt. Beschrieben wird der idealtypische Ablauf einer Einführungssituation in einem ingenieurwissenschaftlichen Fachbereich/ einer ingenieurwissenschaftlichen Fakultät. Je nach Ausgangslage sind in der Anwendung nicht zwingend alle fünf Bestandteile neu aufzubauen, zudem muss der Ablauf nicht unbedingt linear der beschriebenen Reihenfolge unterliegen. Die Einbettung in das jeweilige hochschuleigene Qualitätsmanagement wird in den nachfolgenden Ausführungen als gegeben vorausgesetzt. In die Konzeption sind Erfahrungen aus CHE Consult-Projekten zur Kompetenzorientierung in ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen deutscher Hochschulen sowie Erfahrungen aus der eigenen Lehrtätigkeit der Autorin eingeflossen.
Vermitteln der Sinnhaftigkeit
In einem ersten Schritt sollten allen Lehrenden die Gründe für eine kompetenzorientierte Lehre und die damit verbundenen Chancen fundiert vermittelt werden. Dies kann in Form von Vorträgen und Diskussionen, Sprechstunden, aber auch durch Informationsbroschüren, Videos, Podcasts und ähnlichen Medien erfolgen. Der Einbezug externer Expert:innen ist hierbei ebenso hilfreich wie Erfahrungen intern Lehrender. Bei Treffen der Fachbereiche und Fakultäten sollte die Thematik in gewissen Abständen erneut aufgegriffen werden, um die Distanz zum Thema abzubauen, die gemachten Erfahrungen zu besprechen und gegebenenfalls auch erfolgte methodische Änderungen vorzustellen. Zudem ist es günstig, für neu berufene Professor:innen im Onboarding (sofern vorhanden) eine Einheit zur kompetenzorientierten Lehre vorzusehen. Hierbei ist es wichtig herauszustellen, dass kein Widerspruch besteht zwischen der Kompetenzorientierung einerseits, die aus der Lernenden-Perspektive heraus eine Vermittlung von typischen Anwendungssituationen zum Fokus hat, und der von Seiten der Lehrenden andererseits gewünschten Vermittlung hoher inhaltlicher Qualität.
Eignung der Prüfungsformen beschreiben
Im zweiten Schritt gilt es, die Studiengangsleitungen und alle Modulverantwortlichen mit der Eignung der Prüfungsformen für das Prüfen der Kompetenzen vertraut zu machen, zum Beispiel in Meetings, ergänzt durch Informationen in Form von Hand-Outs, oder in Einzelgesprächen. Die Festlegung der Prüfungsform ist für jedes Modul im Hinblick auf die Erreichung der Zielqualifikation notwendig. Alle in der Modulbeschreibung enthaltenen Kompetenzen müssen geprüft werden können. Insofern ist darauf zu achten, dass die gewählte Prüfungsform konform ist mit den Kompetenzen, die im Modul vermittelt werden sollen.
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Verteilen eines Leitfadens für das Ausfüllen der Modulbeschreibungen
Da Studiengänge und ihre Module nur in längeren Abständen neugestaltet werden, werden auch die Modulbeschreibungen nicht regelmäßig aktualisiert oder neu geschrieben. Im Fall der Neugestaltung oder Überarbeitung besteht dann die Notwendigkeit für die Verantwortlichen, sich in die Kompetenzorientierung, die Kompetenzarten und die passenden Formulierungen hineinzudenken. Über einen Leitfaden, der im vierten Schritt verteilt wird, wird den Modulverantwortlichen das kompetenzorientierte Ausfüllen der Modulbeschreibungen vermittelt. Dabei können formale Aspekte mit eingearbeitet werden, der Schwerpunkt sollte aber auf den auszufüllenden Feldern der Modulbeschreibungen liegen, in denen die Kompetenzorientierung enthalten sind.
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Etablierung einer zentralen Ansprechstelle
Als fünfter Schritt sollte eine zentrale Ansprechstelle eingerichtet werden. Denn trotz aller Unterstützungen schriftlicher Art oder in Form von Einarbeitungen werden letztlich immer mal wieder Fragen zur kompetenzorientierten Lehre auftauchen, insbesondere, wenn die Thematik kein Tagesthema für die Lehrenden darstellt. Diese Aufgabe sollte dauerhaft im Fachbereich/ der Fakultät angesiedelt sein, kann aber während der Einführung temporär auch von einem externen Dienstleister wahrgenommen werden.
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Fazit
In der ingenieurwissenschaftlichen Lehre hat sich die Kompetenzorientierung noch nicht durchgängig etabliert, da Einflüsse wie beispielsweise die axiomatische Denkweise zu einer gewissen Distanz zur Thematik auf Seiten der Lehrenden führen. Jedoch besteht die Möglichkeit, mit einfachen Mitteln eine effiziente und effektive Verankerung zu erreichen: Die Vermittlung der Sinnhaftigkeit kompetenzorientierter Lehre, die Beschreibung der Eignung der verschiedenen Prüfungsformen, die Kompetenzmatrix des Studiengangs, ein Leitfaden zum Ausfüllen der Modulbeschreibungen sowie eine Ansprechstelle können dazu verhelfen. Werden diese Bestandteile gezielt auf die Belange der Ingenieurwissenschaften ausgerichtet, kann eine Akzeptanz entstehen, die eine nachhaltige Umsetzung ermöglicht.
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Prof. Dr. Birgit Baum ist als Associate Consultant bei CHE Consult in Berlin tätig, unter anderem mit Schwerpunkt in der Beratung zur kompetenzorientierten Lehre inklusive der Begleitung von (Re-) Akkreditierungsverfahren.
Foto: privat