Bürger verstehen, Menschen schützen
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Anxiety Culture Project
Bürger verstehen, Menschen schützen

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Die Bedrohungslage für die Bevölkerung hat sich seit dem Krieg in Europa im Jahr 2022 auf mehreren Ebenen dramatisch verändert – das gilt für Deutschland wie auch für andere Länder.
Sowohl in Europa als auch weltweit zeigen die drei „K“ – Krieg, Klimakrisen und Konflikte –, dass die Kernthemen der transatlantischen ACP-Forschungskooperation rund um eine gesellschaftliche Verunsicherung, im 2020er-Jahrzehnt hochaktuell sind. In einem Expertengespräch (Oktober 2022) – dem ACP Expert Talk der Universitäten zu Kiel und Columbia New York – kamen Wissenschaftler:innen, Politiker:innen, Administrator:innen, Stakeholder und Firmenvertreter:innen in der Schleswig-Holsteinischen Landesvertretung Berlin zusammen.
Ziel war es, nach künftigen Instrumenten Ausschau zu halten, um Empfindungen und Stimmungen innerhalb von Gesellschaften frühzeitig ermitteln und politisch einordnen zu können. Damit könnte gesellschafts-politisch angemessen und wirkungsvoll reagiert werden. Mit einer wissenschaftlich fundierten Sentimentanalyse, die Bestandteil eines Anxiety Indexes ist, wäre eine solche Leistung zu erbringen.
The ACP research project integrates ongoing scientific work on Anxiety Culture. The thematic mix explores from different perspectives how general feelings of uncertainty in societies might turn into measurable manifestations of anxiety. These phenomena can reveal social, economic and political behaviours of citizens and influence their decisions.
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The Anxiety Culture Project is externally funded. Interdisciplinarity and internationality are characteristic of the working mode.
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The results of the transatlantic dialogue between the founding partners – Kiel University (Germany) and Columbia University, New York (United State), as well as other involved universities and scientific partners are used in political decision-making processes. In addition, the scientific findings are incorporated into the future curricula of educational institutions. Stakeholders in civil society are also given information through the ACP´s outreach management.
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By the end of the year of 2022, the governance, the research strategy, the thirdparty funding milestones and the work with and the engagement for young scientists will be drafted and defined.
Wir befinden uns in einer Zeit der Polykrise
Worüber sich Professor Ulrich Hoinkes, Romanische Sprachwissenschaft, Universität zu Kiel, und Professor Andre Calero Valdez, Mensch-Maschine-Interaktion & Usable-Safety-Engineering, Universität zu Lübeck, einig sind, ist klar: Unsere Zeit wird beherrscht von multiplen Krisen, den „Polykrisen”, wie sie Andre Calero Valdez beschreibt. Dabei nennt er die Klimakrise, die Energiekrise, die Gesundheitskrise, aber auch Veränderungen in der Migration, die zuletzt auch in Polarisierung und Radikalisierung resultieren.
Diese Krisen sind Teil ständiger öffentlicher Diskurse und gehen über das Individuum hinaus – sie zeigen sich beispielsweise in sozialen Protestbewegungen und sind ein Beweis für ein kollektives Gefühl der Ohnmacht. Ulrich Hoinkes beschreibt dieses Ohnmachtsgefühl im Rahmen des ACP, dessen Mitbegründer er ist, wie folgt: „Möchten wir den Begriff Anxiety definieren, dann ist es mehr als die Emotion Angst. Vielmehr befinden wir uns in einer Zeit der Unsicherheit und Ungewissheit (age of uncertainty), über die wir uns bewusst werden. Hinzu kommt ein allgemein verbreitetes Gefühl der Machtlosigkeit, das sich bisweilen zu einem kollektiven Ohnmachtsgefühl (feeling powerless) ausweitet, so zum Beispiel angesichts der drohenden Klimakatastrophe beim Erreichen von Tipping Points oder angesichts der begrenzten Reaktionsmöglichkeiten des Westens auf Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine. Wir sehen also: Anxiety ist vielmehr ein Mosaik aus kollektiven Schlüsselemotionen, auf die wir uns in unserem Forschungsprojekt insgesamt als ‚Anxiety Culture‘ beziehen. Wir sprechen hier also von mehr als nur von Ängsten bei Individuen.” Das Anxiety-Culture-Projekt möchte demnach erfassen, inwieweit ein Bewusstsein in der Gesellschaft darüber vorhanden ist, was in unserer Welt vor sich geht und wie sich das in einem emotionalen und irrationalen Verhaltensmuster aufzeigt.
Angststörungen als häufigste Angabe bei psychischen und körperlichen Störungen
Laut Professor John Allegrante, Verhaltenswissenschaftler an der Columbia University in New York und ACP-Mitbegründer, sei nicht nur die Häufigkeit von Angststörungen in den letzten Jahren stark gestiegen – auch in Klassifikationssystemen wie dem DSM (Diagnostic and Statistical Manual) hat sich die Seitenzahl der Beiträge zu Angststörungen vom Jahr 1994 (DSM-4) bis zum Jahr 2013 (DSM-5) fast verdoppelt.
Die letzten zwei Jahre hätten gezeigt (2020/21), dass die öffentliche Gesundheit an nationalen Grenzen keinen Halt macht und viele Umfragen zur psychischen Verfassung der globalen Bevölkerung Anlass zur Sorge bereiten. Hauptgrund seien die drängendsten Probleme unserer Zeit: Klimawandel, Migration, globale Epidemien, schneller technologischer Wandel sowie eine kulturelle und politische Polarisierung. Insbesondere der technologische Wandel mitsamt dem rapiden Anstieg der Mediennutzung mache der „Generation Z” zu schaffen.
Einer Studie (APA 2018) zufolge berichten junge Erwachsene zwischen 15 und 18 Jahren von einem größeren Stressgefühl als ältere Personen, wenn es um Themen aus den Nachrichten geht. Die New York Post charakterisierte die Millenials bereits im März 2016 als „die ängstliche Generation“. Wie steht es jedoch um die globale Angst? Können wir sie über die klinische Symptomatik hinweg messen? Dies herauszufinden, nennt John Allegrante als ein Ziel des Anxiety-Culture-Projekts.
Ein gutes Beispiel, um aus der klinischen Perspektive herauszutreten, bietet laut Allegrante der World-Happiness-Index. Dieser ist auch eine Orientierung für einen Anxiety-Index. Allegrante dazu: „Wir müssen verstehen lernen, warum Menschen sich ängstlich und/oder überfordert fühlen. Der World-Happiness-Index hat sich beispielsweise in der Vergangenheit als ein unverzichtbares Instrument für politische Entscheidungsträger erwiesen, um der Frage nachzugehen, was Menschen glücklich macht. Genau das könnten wir auch für den Anxiety-Index erreichen.” Der Happiness Index und -Report wird von einem Konsortium herausgegeben. Unter anderem ist das Center for Sustainable Development – Earth Institute der Columbia University daran beteiligt (World Happiness-Report 2022).
Was erzeugt die Anxiety?
„Das permanente Sprechen über die weltweiten Krisen erzeugt Unsicherheit und Angst”, beschreibt Ulrich Hoinkes. Das soziale Sicherheitsgefühl habe in den westlichen Ländern im Laufe der letzten Jahren erheblich abgenommen, was in den Diskursen der öffentlichen und sozialen Medien deutlich zu erkennen ist. Hoinkes fasst diese Entwicklung unserer Zeit in fünf Aspekten zusammen:
Die fünf Thesen zur gegenwärtigen Anxiety Culture von Ulrich Hoinkes
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Unsere Welt wird sich ihrer katastrophalen Situation bewusst, nachdem sie seit Jahrzehnten öffentlich angekündigt wurde. Die Menschheit ist dabei, das Opfer ihrer eigenen Zivilisation zu werden.
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Unsere Welt verändert sich so schnell, dass wir derzeit langfristige Perspektiven, die wir für sicher hielten, in Frage stellen.
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Das Funktionieren unserer westlichen Welt beruht immer noch auf dem Optimismus der europäischen Aufklärung, deren zentrales Motiv, die Vernunft, keine verlässliche Richtschnur mehr für unser Handeln ist.
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In den öffentlichen und privaten Diskursen unseres Lebens spielen Ängste und Emotionen eine von Jahr zu Jahr dominanter werdende Rolle. Sie bestimmen wesentlich unsere gesellschaftlichen Stimmungen und sind zum Maßstab für politisches Handeln geworden.
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Wir leiden privat und öffentlich unter einem eklatanten Mangel an Vertrauen. Dieser Umstand lässt sich auf mehrere Aspekte zurückführen, vor allem aber auf das Eingeständnis, überfordert zu sein, machtlos zu sein und keine tragfähigen Lösungen für Probleme zu haben.
Die Rolle der Sozialen Medien
Professorin Frauke Nees, Direktorin des Instituts für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein, Universität zu Kiel, unterstützt die Thesen von Ulrich Hoinkes. „Wir sollten die Kommunikation in von Angst besetzter Sprache untersuchen, wie zum Beispiel den Wortgebrauch oder die Art der Mitteilungen als Kommunikationsmittel.“ Die Nutzung von Social Media habe in Zeiten der Unsicherheit extrem zugenommen, sodass sich auch Fake News rasch verbreiten konnten. Aus psychologischer Sicht wisse man, dass junge Menschen besonders anfällig für negative Erfahrungen seien. Auf dem Weg zum Erwachsenwerden sind sie großen körperlichen, mentalen und sozialen Veränderungen und Herausforderungen ausgesetzt. Wenn neben den üblichen pubertären Veränderungen also noch zusätzliche Ereignisse die Jugendlichen auf negative Weise beschäftigen, können diese „externen Faktoren“ ein größeres Risiko für die Entwicklung psychischer Symptome bedingen.
Die Rolle der Wissenschaftskommunikation und Medien
Dr. Dirk Tunger, Wissenschaftler am Forschungszentrum Jülich, Projektträger, im Fachbereich Services der Projektforderung - Kommunikationsmanagement, beschäftigt sich in seiner Forschung mit dem Zusammenhang zwischen Wissenschaft, Gesellschaft, Ökonomie und Medien. In diesem Zusammenhang untersucht er insbesondere die Rolle der Medien. Tunger hebt hervor, dass sich die Mediennutzung in den letzten Jahren und Jahrzehnten stark verändert hat. Das lineare Fernsehen büße viel an Bedeutung ein, das Internet und die sozialen Medien dominieren dagegen stark und haben großen Einfluss auf die Meinungsbildung. Es gibt heutzutage nicht nur nahezu unbegrenzt viele Sender, jeder Mensch könnte seinen eigenen Sender erschaffen und zum Beispiel einen YouTube-Kanal eröffnen. Für Tunger wird es damit auch einfacher, gesellschaftlich Angst zu verbreiten, denn: „Negative Themen setzen sich stärker in den Köpfen fest.“ Zum Projekt Anxiety Index sagt er, es könne helfen, genau die genannten Mechanismen zu analysieren, um diesen zentralen Punkt zu verstehen: von wem und wodurch werde diese Angst genau verursacht? Viele „Producer“ hätten heute keinen journalistischen Hintergrund mehr, was einen Unterschied im Hinblick auf die damit verbundenen Effekte auf die Medienkonsumenten macht, fasst der Jülicher Wissenschaftler zusammen.
Demgegenüber stehe die Wissenschaft, die, immer mehr medialisiert werde, resümiert Tunger. Wissenschaftler:innen könnten heutzutage in Tageszeitungen Interviews geben und mit aktiv sein, „in die Gesellschaft hinein zu kommunizieren“ und ihre Meinung zu teilen. Wissenschaftliche Standpunkte können aber sehr vielfältig und facettenreich sein, direkte Kommunikation von Wissenschaftler:innen über Massenmedien aber auch über Soziale Medien somit widersprüchlich erscheinen. Der Transfer in die Gesellschaft kann somit zur Beteiligung von gesellschaftlichen Gruppen führen, auf der anderen Seite aber auch auf Grund der Intensität und einer möglicherweise kontroversen Diskussion über Zukunftsfragen auch Angst auslösen.
Dr. Gerrit Rößler, Leiter des Knowledge Exchange Office in der Berlin University Alliance (BUA), betont, es sei wichtig, mit den eigentlichen Akteuren der Gesellschaft zusammenzuarbeiten, anstatt ausschließlich unter Wissenschaftler:innen den Austausch zu pflegen. Er hebt hervor, interdisziplinare Forschung reiche nicht, Transdisziplinarität sei ebenso wichtig. Er schlägt vor, Wissenschaft „mit der Gesellschaft, nicht über die Gesellschaft” zu betreiben. Hierzu nennt er als Beispiel das Forschungsdesign einer BUA-Studie, im Rahmen derer junge Menschen für sie relevante Themen frei wählen durften. Die Forscher:innen halfen ihnen anschließend beim Versuchsdesign, bei der Durchführung sowie Auswertung der Studie. Rößlers Forderung ist demnach: Transdisziplinare Forschungsprojekte möglicherweise in einer Verzahnung mit dem World-Happiness-Index und dem geplanten Anxiety-Index anzulegen.
Der Zusammenhang zwischen öffentlichen Diskursen und Schutzverhalten von Bürger:innen
Für Katrin Piejde, CEO und Prokuristin des BSSD (Bunker-Schutzraum-Systeme Deutschland) in Berlin, steigen die Kundenanfragen in ihrem Unternehmen besonders in Zeiten der Angst und Krisen. Sie beschreibt die Ängste als divers und abhängig vom sozialen Hintergrund ihrer Kund:innen. Ein aktuelles Beispiel: „Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine hat sich die Zunahme unseres Geschäftsbereichs extrem verstärkt und geht vom Privatsektor bis in den öffentlichen Bereich.” Außerdem sei auffällig, dass der Schutzbereich gewöhnlich eine männliche Domäne war und es seit Beginn des Krieges eine Verschiebung hin zu weiblichen Interessierten gegeben habe. Dieser Genderaspekt im Schutzverhalten erlebte das Unternehmen als eine entscheidende und möglicherweise für die Zukunft spannende Wendung. Allgemeine Verhaltensmuster, die aus Ängsten oder Krisen der Unsicherheit hervorgehen, müssten somit auch dahingehend untersucht werden.
Schutzverhalten als Produkt der Angst?
In seiner Forschung zu Schutzverhalten (protective behavior) fand Andre Calero Valdez in seiner Studie Perceptions of behaviour efficacy, not perceptions of threat, are drivers of COVID-19 protective behaviour in Germany heraus, dass das Gefühl der Angst nicht die treibende Kraft von Schutzverhalten ist. Die wahrgenommene Wirksamkeit des Schutzverhaltens zum einen sowie die normativen Überzeugungen und Kosten für Schutzverhalten zum anderen sind vielmehr für die Vorhersage dieses Verhaltensmusters ausschlaggebend.
Was die veränderte Zahl der Kundenanfragen bei Katrin Piejde jedoch erklären könnte, wären die Kommunikationsstrategien in den Medien und in der Wissenschaft, die in der Studie von Andre Calero Valdez stark negativ mit Schutzverhalten korrelierte. Hierbei stand das Wissen über COVID-19 in einem schwachen Zusammenhang mit der wahrgenommenen Wirksamkeit des Schutzverhaltens sowie mit dem Verhalten selbst. Diese Ergebnisse legen nahe, dass Kommunikationsstrategien im Zusammenhang mit COVID-19 die Wirksamkeit der ergriffenen Schutzmaßnahmen betonen und das Verantwortungsbewusstsein fördern können.
Perspektive für die Zukunft
Die Initiatoren des Anxiety-Culture-Projekts, Hoinkes und Allegrante, versprechen sich von der Entwicklung eines Anxiety-Index, globale Ängste und Verunsicherungen sowie die Resilienz einer zuversichtlichen Weltsicht messbar und wissenschaftlich nachvollziehbarer zu machen. Das große Ziel dahinter lautet: „Leben retten“. Indem zukünftig weniger Menschen psychische Verhaltensstörungen entwickeln, womit Gewalttaten wie beispielsweise Attentaten entgegengewirkt werden könnte. Folglich könnte durch einen Anxiety-Index vernunftgeleitetes Denken verbessert und gleichzeitig Risikomanagement bewirkt werden.
Eine genauere Erfassung der Wirkungsmechanismen im Bereich gesellschaftlich relevanter Ängste könnte Aufschluss über Angstindikatoren – sowohl ihre Erkennbarkeit als auch ihre Steuerbarkeit – geben. Bedenkt man dass unser Verhalten einer der zentralen Parameter für unsere Gesundheit sind, so Frauke Nees, sind Vorhersagen, die mit Hilfe des Indexes getroffen gegebenenfalls schneller, reaktiver und präziser werden könnten, ein Instrument, um Risiken für die mentale Gesundheit früh genug zu erkennen als auch protektive Faktoren und Prozesse in diesem Zusammenhang unterstützen zu können.
Der Lübecker Forscher Calero Valdez erwartet vom Anxiety-Index, dass dieser zur Entwicklung von technischen Systemen dienen kann, mit dem Ziel, eine verbesserte Sicherheit für Gesundheit, Organisationen, Umwelt und Gesellschaft zu gewährleisten. Ein besseres Verständnis der „Sorgen und Befürchtungen“ über aktuelle Themen unserer Zeit sieht er als unabdingbar an, um gesellschaftspolitisch angemessen urteilen und entscheiden zu können.
Professor Christian Martin, Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität zu Kiel, schlägt als Ziel vor, durch den Index Echtzeitinformationen darüber einzuholen, welche Sorgen gerade vermehrt auftreten und wie intensiv sich diese Sorgen zeigen. „Wir würden Beobachtungsdaten nutzen können, um Ängste mit Hilfe des Konsumverhaltens der Menschen vorherzusagen. Ängste in Deutschland könnten möglicherweise mit der `Toilettenpapier- Nachfrage´ positiv korrelieren.”
Politische Handlungsoptionen aus einem Angst-Index
Dr. Annett Schulze, Leiterin des Studienzentrums für Sozialwissenschaftliche Risikokommunikationsforschung am Bundesinstitut für Risikobewertung in Berlin, weist darauf hin, dass ein Mixed-Methods-Ansatz zum Erfassen des Konstrukts Anxiety sinnvoll wäre: "Um verschiedene Unsicherheitsgefühle in der Bevölkerung erklären zu können, braucht es ein Methodendesign, das sowohl qualitative als auch quantitative Methoden berücksichtigt. Nur so lässt sich explorieren, woran die Befragten Unsicherheit festmachen, welche Erfahrungen sie gesammelt haben, welche (Risiko-)Wahrnehmungen sie prägen. Dann kann man mit Blick auf die jeweilige Zielgruppe diese Daten zum Beispiel über eine Repräsentativbefragung standardisieren.”
Heiko Rottmann, Unterabteilungsleiter im Bundesministerium für Gesundheit, äußerte hingegen Zweifel an der Nutzbarkeit eines Anxiety-Index für politische Entscheidungsträger. Christian Martin „versteht diese berechtigte Zurückhaltung“, sieht aber dennoch, dass ein Anxiety-Index als eine Art „Anzeigetafel“ dienen könne, „die uns ein `ideales Europa´ präsentiert“. Die Idee: Verschiedene Regionen würden unterschiedliche Werte im Anxiety-Index zeigen – diese Daten müssten korrekt interpretiert und anderen der Zugriff auf diese Daten gewährt werden. „Ein Anxiety-Index kann“, so Martin, „insbesondere dafür genutzt werden, mehr proaktive Politik, das heißt, vorausschauende und zukunftsgestaltende Staatsführung zu betreiben. Möglicherweise können aus den gewonnenen Daten sogenannte „Anxiety-Cluster” generiert werden, mit denen etwa eine Angst und mit dieser verbundene weitere Ängste identifiziert und erklärt werden können.“
Politische Strategien spielen in Krisen eine sehr große Rolle. Aus diesem Grund wirken laut Christian Martin „Anxieties” als eine stete Variable in der Politik. Als Beispiel nennt er die Politik der Partei Bündnis 90/Die Grünen und ihre Reaktion auf die Atomkraft. Hat das heute einen anderen Effekt als damals, fragt er. Derartige Korrelate sollten unbedingt untersucht werden, um verschiedene Arten von Ängsten erklären zu können.
Cordula Kleidt, Leiterin des Referats für Wissenschaftskommunikation im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), ist überzeugt, dass Wissenschaft den Dialog mit der Öffentlichkeit und der organisierten Zivilgesellschaft künftig weiter intensivieren sollte. Sie appelliert an Wissenschaft und Politik gleichermaßen: „Jetzt ist nicht die Zeit, sich zurückzuziehen, sondern Zeit für eine beherzte Kommunikation”. Ein Wunsch der BMBF-Wissenschaftsmanagerin Kleidt kommt einem Fazit des Expertentreffens gleich: „Synergien sollten genutzt werden, um Entscheidungsfindungen mithilfe eines Anxiety-Index in der Politik überhaupt möglich zu machen. Wir müssen vom Wissen zum Handeln kommen.”
Ronja Teschendorf (BA) und Lilit Karapetyan (BA) sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Romanischen Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (Foto: studioline Photostudios Kiel).